Was ist Belcanto?

Belcanto heißt italienisch "Schön-Gesang" und entstand in der Entwicklungslinie des italienischen Kunstgesangs im Zusammenhang mit der stilistischen Entwicklung der italienischen Oper.
Belcanto ist eine Ausführungsweise des Gesanges, auch eine stilistische Forderung, die zu gewünschten Klangergebnissen bezogen auf ein bestimmtes Opernrepertoire führen sollte. Dieser im Ursprung italienische Gesangsstil fordert bestimmte Ausführungseigenschaften und Stimmeigenschaften des Sängers.

Der Ursprung des italienischen Kunstgesangs und damit des späteren Belcanto findet sich
- in den liedhaften Vorläufern des 14./15. Jhrdt.
- später im "stile nuovo" des 16./17. Jhrdt.

In Italien um 1600 ist die ‚Monodie’ die neue Art von Musik neben einfacher Mehrstimmigkeit – ein Gesang mit sparsamer Instrumentalbegleitung.
Seit dem 16. Jhrdt bedeutete Belcanto-Komposition der Einsatz der Melodik.
Der Gesangsstil als Produkt des italienischen Musiktheaters im 17. Jhrdt., des Barock-Zeitalters – des Settecento.

Der Gesang - noch von der Rezitation sprachlich dominiert - wird führende Ausdrucksform, als die Oper entsteht.

Nach der Definition des italienischen Komponisten Jacopo Galuppi (Ende 17., Anfang 18. Jhrdt.) ist es eine Musik, die "in erster Linie der charmanten, einfachen und schönen Melodie verpflichtet ist, mit einer klaren durchsichtigen Begleitung, die genügend Raum für Virtuosität und Emotion lässt."
Im späteren Nachtrag schreibt er weiter: Dabei seien die wichtigsten Elemente guter Musik: "Anmut, Klarheit, gute Modulation".

Entwicklung der Belcanto-Tradition heißt auch Entwicklung der italienischen Oper:
Die musikgeschichtlichen Strömungen vollzogen sich wellenartig - im Kommen und Gehen. In Italien zur Zeit des Hochbarock existieren nacheinander wichtige Zentren vokalen Schaffens – herausragend die venezianische und die neapolitanische Schule:

I. Ende des 16./17.Jhrdt. – des Settecento – das Belcanto-Zeitalter beginnt:

Mit dem erklärten Ziel in der „poetica della meraviglia“ = die Verwunderung als heftige und mitreißende Gefühlsäußerung.

  1. Florentiner Camerata
    Pietro della Valle Florenz, 1640 Mit dem Gesang erster virtuosen Passagen Vertreter: Peri, Caccini Daneben fordert der Künstlerkreis um Graf Bardi in Florenz Gefühlsausdruck über die Melodie alt-italien. Arien Vertreter: Rossi, Caldara u.a.

  2. Römische Schule
    die ital. Oper fordert emotionale Kraft der Melodie erste Koloraturen und dramatischer Vortragsstil (wird als Vorläufer späteren Verismostils des 20Jhrdt. gesehen)

  3. Venezianische Schule
    entwickelte sich aus der römischen Schule in Venedig Vertreter: Claudio Monteverdi, Cavalli, Cesti, Steffani – erste dramat. Arien / ariose Elemente im Wechsel mit deklamatorischer Ausdruckskraft

  4. Nach Monteverdi die venezianische Camerata Mit dem Gesangsstil der venezianischen Schule Der Gesang sollte Gefühle ("Affekte") ausdrücken Dieser Stil entspringt aus den Anfängen des Künstler- und Philosophenkreises beim Grafen de Bardi in Florenz: Erste Opernkompositionen entstehen mit deklamatorischem Stil – (wenig Melodie); die Kirchenmusik und folgende Opern entwickeln ihre Melodik. Der venezianischen Schule entstammen die Komponisten alt-italienischer Arien.

  5. Neapolitanische Schule
    die Oper wird zur gegliederten Musikgattung mit der opera seria - ein gegliedertes Musik-Opus mit Ouvertüre und Da-capo-Arie auf einem Drama der Dichtkunst - meist Metastasios - mit ihrem entsprechenden Gesangsstil: manieristischer Ziergesang mit einer bestimmten Gesangstechnik, Affektenlehre, Rezitative, Kastraten, Koloraturen / Ziergesang = canto fiorito, Besetzungen Vertreter: Scarlatti, Vinci, Leo, Porpora, Hasse Die zeitliche Hochblüte des canto fiorito (ital.) besteht Ende des 17. bis Anfang des 19. Jhrdt. mit einer Hochphase 1810 - 1850. Ein mit Koloraturen extrem ausgeschmückter, manieristischer und virtuoser Ziergesang, der vom Sänger virtuosen Einfallsreichtum sowie eine spezielle Gesangstechnik verlangte. In der Stilistik der Oper finden sich: mythologische Szenen, auskomponierte Affekte, Rezitative, Besetzungsvorgaben und Kastraten-Stimmen. Diese verfügten durch die physische Manipulation, nach damaliger Sicht, über "göttliche" stimmlich- klangliche und atem-konstitutionelle Eigenschaften, die dem Gesangs-Ideal entsprachen.


II. Belcanto im 18. Jhrdt. - Ottocento - die Opera seria besteht

Virtuose Kadenzen, Fiorituren / Verzierungen, akrobat. Koloraturen, herrliche Arien der opera seria. Es existieren große Gesangsschulen von Pistocchi, Porpora, Bernacchi Komponisten der opera seria des "Ottocento" (18. Jrhdt) bis zur Opernreform Glucks: Bononcini, Galluppi, Cimarosa, Porpora, Alessandro Scarlatti, Vivaldi, A. Corelli, Johann Adolf Hasse, Jommelli, Sacchini, Traetta, Piccini
Mitte des Jhrdts. - der Wendepunkt der Kompositionsidee u. Gesangskultur mit neuen Mitteln für die Interpretation – mit Gluck - eine Stilwende auch der Belcanto-Stilistik.

Glucks Opern-Reform der Jahre 1774-80 forderte in Anknüpfung an die neapolitanische Schule: mehr Schlichtheit, mehr Dramatik, weniger Koloraturen, mehr Rezitativ, mehr Wortgültigkeit und Wortpoesie.

Erst jetzt taucht der Begriff „Belcanto“ auf – also nach der Hochblüte des virtuosen Belcanto-Zeitalters der Koloratur im 18. Jhrdt. – mit der Entwicklung der italienischen Oper und der Entwicklung ihrer gesanglichen Ausdrucksmittel - ihrer Interpretation und stilistischen Forderungen.

Der Kompositionsstil passte sich an und kam ... zurück zu einem natürlicheren, schlichteren Gesangs-Stil auf großen melodischen Bögen, ...mit dramatischerer Aussagekraft, realistischem Ausdruck und auskomponierter „echter“ Emotion ... und blieb ... bis Ende des 19. / Anfang des 20. Jhrdts. auch dramatisches Stilmittel der Opern des Verismo. Es wird eine Belcanto-Gesangstechnik zur stilsicheren Ausführung notwendig, die gewünschte Stimm-, Klang- und Interpretationseigenschaften im Sinne traditioneller, italienischer Gesangs-Schule erfüllen kann.


III. Belcanto des 19. Jhrdt – Novecento - mit stilistischen Veränderungen

Anfang dieses Jhrdts entsteht der Belcantobegriff für tonliche und stimmliche Ideale des Gesangs.

  1. bei Rossini: wird der Gesangsstil des belcanto rossiniane – stil-immanent anknüpfend an das 18 Jhrdt. agil, spielerisch, modulierend, flexibel
  2. bei Bellini, Donizetti: Eine Melodielinie, die über einer einfachen Begleitung großer Bögen spannt und, z.B. bei Wiederholungen einzelner Abschnitte mehr und mehr expressiv verziert wird. Sängerische Schluss-Kadenzen können mit Bewegung an Koloratur erinnern.
  3. bei Puccini: Modulationsfähigkeit, Weichheit, emotionalen Farben Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit
  4. bei Verdi, im Übergang zum Verismo - Belcanto verdiane – ein wieder mehr natürlich melodischer Gesangsstil – auskomponiert ohne improvisatorische Einlagen von Kadenzen – vereinzelte Charakterisierungselemente von Reminiszenzen der Koloratur.


lV. Belcanto – Anfang des 20. Jhrdts. – In der Stilistik des Verismo

- dramatische Schicksale der Protagonisten
- malerische Schilderung der Schauplätze und Natur
- leidenschaftlich affektives Handeln der Personen
- die Dramatik rückt in den Vordergrund
- ungeschminkte Darstellung von Grausamkeit und Schicksal
- weitgespannte Melodik und raffinierte Orchestration

Bekannte Belcanto-Komponisten des 20. Jhrdt. – des "Verismo": Leoncavallo, Mascagni, Giordano, Ciléa, Catalani, d’Albert u.v.a. Der Belcanto verismo – die Dramatik der echten Emotion Ähnlich dem Belcanto verdiane, nur in großen Melodiebögen der Arien, ariosen Passagen ausführbar.

Die gesangliche Interpretation der naturalistischen Dramatik in der Darstellung von Affekten wie Schluchzen, Weinen, Seufzen, Schreie - expressivste Dramatik macht die Kultur der Gesangslinie im Sinne einer konsequenten Belcanto-Gesangstechnik zu einer wirklich echten Herausforderung!

So die Historie und Theorie der italienischen Belcanto-Gesangskultur.

Zwei Kommentare zur Entwicklung des Belcanto aus der Sicht von Petra Wolf-Perraudin – basierend auf viel-jährigen Gesangsstudien in Italien:

Kommentar I
Nach Ansicht mancher Autoren, gäbe es bereits seit den Kompositionen Verdis keinen wirklichen Belcanto-Gesang mehr.

Aus meiner Sicht des ausgebildeten Sänger-Profis hat sich zwar die kompositorische Stilistik des Belcanto mit Verdi verändert, nicht jedoch die Forderungen an die Ausführungspraxis des Gesangs. Die im 17. - 18. Jhrdt aufblühende Hochkultur des Belcanto wurde von besonderen Gesangsfähigkeiten der Kastraten bestimmt und stilistisch mit akrobatischen Ausführungen von Verzierungen, Scalen und Allegorien in höchster Vollendung praktiziert. Der letzte Anhänger dieser Stilistik der Kastratenkunst in der Kompositionsgeschichte der italienischen Oper war Rossini. Mit dem Wandel des Zeitgeschmacks verschwand nach Rossini der alte Belcanto-Stil mit dem abnehmenden Interesse an ihren Protagonisten, den Kastraten, was von manchen Kennern als Untergang einer Gesangskultur und Kehlfertigkeit betrachtet wurde. Der Zeitgeschmack, der immer für Bewegung durch das Auftreten entgegen gerichteter Strömungen im Zeitenwandel des Musiklebens sorgte, führte im Kompositionsstil der italienischen Romantik seit Bellini zu neuen, anderen Schwerpunkten – ein Wandel weg vom alten Stil, hin zu großer Melodik, inhaltlichem Realismus, Charakterdarstellungen, großer Dramatik und Emotionalität. Die Bedeutung der Koloratur war Mitte des 19.Jhrdt in Italien als dramatisches Stilmittel nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen entwickelte sich schon seit dem Kompositionsstil Donizettis eine neue Dramatik mit großen Gesangsbögen, "athletischeren" Anforderungen an die sängerisch-physische Konstitution, Leistungsfähigkeit und den Sänger-Impetus. Nur eine zeitgemäße Weiterentwicklung zu einer anderen Form der Belcanto-Stilistik konnte dem Werk und dem Zeitgeschmack interpretatorisch und musikalisch gerecht werden.

Rossini - als ehemaliger Sänger und damit selbstverständlicher Verfechter der Aussage: „prima la musica poi le parole“, was als Forderung soviel heißt: die Behandlung der Gesangslinie solle in ihrer Wichtigkeit der Deklamation des Wortes vorangestellt sein, beklagt sich in einem Brief an Luigi Crisostomo Ferrucci am 23.3.1866 über den Belcanto und das Verschwinden der hohen Kastraten-Gesangskultur Mitte des 19. Jhrdts wie folgt: „… Jene Verstümmelten, denen keine andere Laufbahn als die des Gesanges offen stand, waren die Begründer des >cantar che nell’anima si sente (des Singens, das man in der Seele spürt) und mit ihrem Verschwinden setzte der horrende Verfall des belcanto italiano ein.
Zwei Jahre später schreibt Rossini an Filippo Filippi 26.8.1868 über die derzeit beklagenswerte emotionslose Gesangskunst: „Einen gewissen Verfall der Gesangskunst kann ich nicht leugnen, neigen doch die, die sie neuerdings pflegen, eher zu Wasserscheu, als zum Italo dolce cantar che nell’anima si sente".

In einem weiteren Brief an Franceso Florimo, zitiert von Radiciotti 1927, schreibt Rossini über die entgleiste Entwicklung der Gesangskunst, Dramatik und Interpretation: „Die heutige Gesangskunst ist auf die Barrikaden gestiegen; den alten, ausgezierten Gesang ersetzte man durch einen nervösen, den feierlichen durch Schreie, die man sonst französisch nannte, das Herzlich-Sentimentale durch eine leidenschaftliche Scheu vor Tränen."
Verdi hat sich mit seiner eigenen Vorstellung in der Verbindung melodischer und emotionaler Natürlichkeit mit neuer Dramatik in folgendem Zitat gegen einen kompositorischen Manierismus ausgesprochen: „Melodien lassen sich nicht mit Scalen, Trillern oder Verzierungen machen … die Cavatinen aus dem „Barbier“, das sind keine Melodien, … nicht einmal ordentliche Musik!"
Das zentrale Belcanto-Stilmittel einer großbogigen Gesangslinie entspricht dem zentralen Stilmittel des Belcanto im 19. Jhrdt, der Cantilene, die über Kompositionsstile Bellinis, Donizettis und Verdis in großen melodischen, sowie musikdramatischen Mitteln verarbeitet wurde. Dies bedeutete eine Veränderung für den Sänger, der folglich mit neuen Anforderungen in seiner praktischen Umsetzung konfrontiert war, die andere physische Kapazitäten von Atem und Stimme, sowie dramatischer Expressivität von ihm forderten.

Verdi hat nach Bellini und Donizetti seine eigenen, unverziert hochemotionalen Mittel melodischer Kompositionsstilistik mit anderen Schwerpunkten versehen, eine stilistische Weiterentwicklung - bei absolut gezielt musikdramatischem und minimalistischem Einsatz von Koloraturen, wie z.B. im Ernani, Don Carlos und Macbeth - jedoch im Gegensatz zu seinen Vorgängern mit anderen dramatischen und rhythmischen Akzenten, sowie harmonischen Charakterisierungen in seinem Spätwerk.
Sein neuer Stil forderte im krassen Gegensatz zur Koloratur- und Verzierungskunst des Belcanto-Zeitalters mehr Realität in einer großen Dramatik seiner Opera Seria. Das bedeutete eine große Vielfarbigkeit der Emotion und musikalische Vielgestaltung der Figuren, große Dynamik des orchestralen Parts entsprechend der Handlung des Librettos. Ich denke nicht, dass man der Verdischen Gesangskomposition belcantistische Qualitäten „des Schöngesangs“ wegen nicht vorhandener Koloraturen absprechen sollte.
Es ist ein anderes “cantar che nell‘ anima si sente“, das stimmliche Weichheit und gekonnte Linie des Legato, aber auch Beweglichkeit im Rahmen einer neuen Dramatik fordert. Neue Kontraste kommen zum Einsatz in der Komposition - einfache Rhythmen unter großer Gesangslinie, auskomponierte Emotion im Aufbau dramatischer Szenen von Tragödien, die direkt „berühren“ und hier als emotionaler Stimulus der ursprünglichen Forderung in der Belcanto-Stilistik des 17.Jhrdt sogar eher noch entgegen kommt, „einem Gesang, den man (direkt) in der Seele spürt“, in der großen Gesangslinie und musikdramatischen Charakterisierung – durch die Genialität kompositorischer Umsetzung eines großen Künstlers und Menschen. Erst die Entwicklung der Operndramatik brachte neue Wege der Gesangskultur hervor, somit auch einen Caruso, einen Pertile, eine Callas, einen Corelli.
Ihre Petra Wolf-Perraudin

Kommentar II
Doch eine Gesangslinie ist nicht gleich einer Gesangslinie

... ein Legato nicht gleich einem Legato und der individuelle Stimmsitz bleibt individuell, ob durch Persönlichkeit oder regionale Vermittlungsunterschiede geprägt.
Auch die rein deutsche Einteilungsform des Opernfachs z.B. des weiblichen Koloraturfachs sagt nur etwas über das gesungene Repertoire und nichts über die tatsächlichen sanglichen Fähigkeiten aus - der zuordnungsfähigen Umsetzung, der gesanglichen Ausführung oder ihrer kulturellen Ursprünge.

Eine Zuordnung ob Belcanto-Sänger oder nicht obliegt nicht so sehr der Repertoire-Frage, sondern der Erkennung des bestehenden Gesangsmodus mit dem akustischen Gesamtbild.
Die regionalen Auffassungen und Verarbeitung der italienischen Belcanto-Gesangskultur bringt neue Wertungen mit sich, die sich vom ursprünglichen Klangideal Italiens und dem damit verbundenen, angestammten Klangresultat entfernt haben. Die italienische Vorstellung einer Belcantostimme benötigt bestimmte Klangeigenschaften für ihre Hör-Akzeptanz, vor allem im eigenen Land.
Und traditionelle Verarbeitungsmodi der Interpretation, die uns immer wieder zu Begeisterungsstürmen italienischer Belcanto-Leistung hinreißen lassen, liegen in der italienischen Form der Belcanto-Gesangstechnik und ihrer Ausbildung begründet. Das Resultat ergibt sich aus einer spezifischen Stimmführung, dem Stimmsitz, der Stimmfarben, der Art ihrer Modulationsweise und flexiblen Ausführbarkeit und der Sängerpersönlichkeit.

Aufgrund unterschiedlicher, regional ausgeprägter Entwicklungen gesangskultureller Strömungen des Belcanto ergaben sich Änderungen ihrer Umsetzung. Andere Gesangsauffassungen, Gesangs- und Sänger-Resultate regionaler Interpretations-Mentalität, die häufig der italienischen Hörerwartung – und das ist Fakt - aufgrund der dortigen erworbener Hörerfahrung als kulturell zu wenig authentisch und fremd erscheint.

Der Versuch, diese historisch gewachsenen Tatsachen „in ein neues Licht zu rücken“, ist sinnlos. Denn es würde bedeuten, dass das wunderbar mitreißende Element italienisch ausgebildeter Stimmkultur und ihrer Klangbesonderheiten uns unseres Erlebnisses herrlicher Momente genussvoll mitreißender Opernabende mit hörbar stil-echtem Flair berauben würde.

Kleine Diskussion – am Beispiel des lyrischen Tenors
Tito Schipa,

der die Belcanto-Fachwelt schon mehrfach zu hitzigen Diskussionen brachte und in Italien als Belcanto-Sänger allgemein gesehen wird. In der Belcanto-Fachwelt war er häufiger Diskussionsfall.

Ich möchte auf diesen sehr musikalischen Sänger einen differenzierten Blick aus meiner Sicht und Einschätzung als „Post-Belcanto-Graduierte“ werfen:

Tito Schipa, lyrischer Tenor – mehr im Repertoire des 18./19.Jhrdt zuhause – war ein bescheiden auftretender Sänger mit legendärer Präsenz und einer Vielzahl von farbgebenden Gestaltungsmöglichkeiten. Er besaß eine große Musikalität ...


... und hatte die Fähigkeit zur Umsetzung seines Belcanto-Repertoires mit einer umsetzenden Gesangs-Technik, die in der Hauptsache - italienisch umschrieben als eine „von der Sprache gesteuerten Form“ - einer Art sprechgesteuerten Gesangs - umsetzt und nicht über konsequente Belcanto-Gesangstechnik singt. Aus meiner Belcanto-Vorzeit und dem Erlernen mehrerer deutscher Stimmtechniken weiß ich, dass es sich bei der „Schipa-Technik“ um eine für diesen lyrischen Sängertyp eigene Sonderform handelt, die dem Belcanto-Ideal alter italienischer Schule nur fragmentweise in den Ariosi-Passagen entspricht. Seine Gesangstechnik ist daher eine Sonderform, die diesem Sänger trotz kleiner Stimme viel dynamische Differenzierung der pianissimi ermöglicht, die seine sängerische „Palette“ über ein vergrößertes Dynamikpotential der „zarten Töne“ erweitert - häufig mit einer von der körperlichen Führung isolierten Form. Schipas Belcanto-Interpretationen sind trotzdem berührend, wenngleich mit einer Sonderform der Stimmtechnik zugunsten seiner kleinen, doch agileren Stimmanlage im Vergleich zu einem Spinto-Tenor. Und Schipa war nicht der einzige Sänger, der es fachlich so hielt. Schipa war zweifellos ein toller Sänger des Belcanto-Repertoires auf seine Weise. Eine größere Stimme besaß sein Tenorzeitgenosse Benjamino Gigli, ein Spinto-Tenor des dramatischeren Stimmtyps, der aufgrund stimmschonender und farberweiternder Ideen, seine Stimme noch vor Caruso wie ein lyrischer Tenor – allerdings mit Belcanto-Gesangstechnik - zu führen pflegte und auch in den dramatischeren Passagen mit dieser zu überzeugen verstand. Seine lyrische Form der musikalischen Umsetzung war genau so treffend wie sein dramatischer Part des Spinto-Charakters mit Strahlkraft. In diesem Zusammenhang würde ich Gigli auch als einer Art Sonderform bezeichnen. Sein größeres Stimmpotential, das forsche Sängertemperament und seine physische Anlage haben die Aufgabe, das dramatische Repertoire eines forschen, temperamentvollen Stimmcharakters eines jugendlichen Helden mit Charakter der stimmlichen Strahlkraft zu verbinden - im Repertoire der italienischen und französischen Oper des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Schipa und Gigli, zwei Sänger und Zeitgenossen mit unterschiedlichen Stimmanlagen, unterschiedlichem Stimmfach und Sängertypen mit unterschiedlichem Repertoire. Noch einmal genau: Tito Schipa sang mit einer Gesangstechnik, der der Sprechimpetus und eine Sprechakzentuierung zugrunde und damit außerhalb der Bewertung einer lupenreinen Gesangstechnik des Belcanto liegt. Hinter seiner anders gelagerten und langjährig erarbeiteten Gesangstechnik stecken andere Ideale und Ausbildungs-Schwerpunkte, die speziell diesem lyrischen Stimmnaturell des Sängers entgegenkommt. Wenn man Schipa zuhört, hört man einen oberklangreichen, manchmal vom Körper gelösten Stimmsitz, den er möglicherweise aufgrund eines kleinen Stimmvolumens eines lyrischen Tenors erarbeitete und so mehr Oberklangreichtum und mehr Differenzierung der leisen Töne für sich erlangen konnte. Dennoch besaß er eine Belcanto-Stimmfarbe, mit der Schipa sein Belcanto-Repertoire wunderbar überzeugend musikalisch berührend transportieren konnte.

"Belcanto" - ja oder nein ?

... eine Frage, die im Detail nicht schnell zu beantworten ist. Belcanto ist eine Kunstform des klassischen Gesanges, die sich im Laufe der italienischen Opern-Geschichte entwickelt hat. Der Gesangsstil und das Klangergebnis kann benannt, jedoch nicht über den „Prototyp“ eines Klang-Ergebnisses, Sängers oder Gesangsergebnisses gespiegelt werden.

Es existiert eine Vielzahl begrifflicher Interpretationsversuche – jeder in seinem Urteilsrahmen, seinem individuellen Ergebnis aus der Summe seiner eigenen Erfahrungen bzw. Professionalität, was seit den 70igern fachlich diesbezüglich zu einem „Tauziehen“ vor allem der mitteleuropäischen Fachwelt – frei nach dem Motto: “Nichts Genaues weiß man nicht !“ geführt hat.

Wir befinden uns in dem Bereich der Hör-Rezeption, der Analyse eines Höreindrucks von Gesangseigenschaften, die einer musikalischen Interpretationsform seriöser, klassischer Kunstausübung und einer darstellenden Form des Gesanges gegenübersteht, was eine übergroße Anzahl von individuellen Vermutungen und Auslegungen auch unter Gesangs-Fachleuten erklärt. Sehr verwirrend, wenn man ohne Fach-Kompetenz vor den Fragen steht und sehr bereichernd, wenn es Erklärungen gibt, die hier Fassbarkeit und Erkenntnis bringen.

„Schwammige“ Theorie und diffuse Vorstellung, aber hörbare Gesangseigenschaften und überzeugendes Klangergebnis waren Grund genug, mich über Jahre bereits als Gesangs-Studentin, dann als „forschende“ Sängerin und spätere Stimmfachfrau in einen Lern- und Studierprozess zu begeben, der zu Klarheit führt und den Kern der Sache hinter dieser Kunstform fühlbar und „greifbar“ macht.
Allein der Kontext kultureller und regional bedingter Entwicklungen dieser Kunstform, weg von der zentral-traditionellen Linie Italienischer Schule, brachte enorm unterschiedliche Auffassungs- und Klangergebnisse sowie Erscheinungsformen ihrer Protagonisten und musikalischen Ausführungsmodi mit sich.

Ich ließ mich von meinem Sängerinstinkt leiten, der mich immer wieder in Wahrnehmung von Qualitätsunterschieden, Fehlauffassungen und Erarbeitungsweisen auf den Weg der Klärung brachte – im Umgang mit der Stimme und ihrer Ausführungspraxis: erst als langjähriger Hörer, dann als Gesangs-Student durch die Kenntnis und Erfahrung unterschiedlichster Techniken und Klangergebnisse.
Als Sängerin, konnte ich die Unterschiede der Stimmproduktion qualitativ und im kollegialen „Nebeneinander“ sozusagen direkt erfahren - die Umsetzung dieser Kunstform, von der „in diesen Breiten“ so gut wie gar nichts bekannt war. Obendrein stieß ich auf Fehlsichtigkeit musikalisch Leitender, die ihre Mangelkenntnis selbstherrlich zur oberen Prämisse und Tugend ihres „Wirkungsbereichs“ erklärten, was zu eigen-diktierten Fehlauffassungen und erzwungenen Fehlresultaten in der musikalischen Aufführungspraxis der Gesangsleistung bedeutete, wider eines besseren Wissens und ohne kritische Betrachtung und einsichtige Entwicklung.
Nicht zu glauben, aber wahr, dass dieses beschriebene Ergebnis in einem Outing eines „Belcanto-Hassers“ gipfelte und - aus Unwissen und Abneigung gegenüber einer unklaren und deshalb als „unsympathisch“ goutierten Kunstform des Gesanges, mit der Absicht, sich von dieser ungeliebten Kunstform in der Ausübung abzuwenden. Dieses sich selbst beschränkende und selbst demotivierende „Banausentum“, sowie das krasse, unfassbare Auffassungsgefälle dieser Gesangskunstform zwischen Deutschland Nord und Deutschland Süd, brachte mich entschlossen auf den Weg, hierzu eine Klärung herbei zu führen.

Schließlich hat es Jahre gedauert, bis es zu Ergebnissen kam – ich habe eingesetzt, was möglich war, um den Fragen der „Besonderheit des traditionellen italienischen Gesangs- und der Belcantolehre“ nachzugehen, um eine klare Einschätzung und nachvollziehbare Antworten zu finden: für mein „sicheres Ohr“, die umfassende Erfahrung, als wichtigste Grundlage für seriöse Einschätzungsfähigkeit, Kompetenz und veritables Arbeiten, dafür war mir kein Weg zu weit und kein Aufwand harter Erarbeitung zu groß.

Im Laufe meines Lebens habe ich mir große Unterschiede gesangstechnischer Produktions- und Herangehensweisen über Jahrzehnte erarbeitet.
Im Wissen, dass eine Klärung über eine Hörbeurteilung allein n i c h t erreicht werden kann, sondern auch eine Orientierung -einen Zugang der Einschätzung in die Gesangstechnik der tonlichen Umsetzung des Sängers im Kern zu erkennen- benötigt, was für die Belcanto-Gesangstechnik von immanenter Wichtigkeit ist. Dieses genaue „Wie“ der Gesangstechnik erschließt sich jedoch nur vorstudierten Fachleuten, denen Unterschiede der Erzeugung dieser Technik wahrnehmbar und nicht verschlossen bleibt, was nur nach vielen Erfahrungsjahren sängerischer Umsetzung und der Kenntnis vieler Gesangs-Techniken wirklich möglich ist. So ist es auch mit der Frage des Stimmsitzes, der nur durch Erfahrbarkeit des „Selbst-Erlernt-Habens“ und damit die Unterschiede erworbener Professionalität gesangstechnisch beurteilen kann. „Die Fütterung“ des sängerisch-physischen Bewusstseins durch die Gesangslehre und das sensible Gespür des „inneren Nachvollzuges“ allein bringt letztlich die seriöse, fachliche Differenzierungsfähigkeit in der Frage der Ausführbarkeit des Gesanges.

Aufgrund meiner umfassenden, sängerischen Erfahrungen eines großen Zeitraums seit 1974 - des Erlernens unterschiedlichster, kompletter klassischer Gesangstechniken, auch schon vor den Jahren meines Belcanto-Studiums der italienischen Gesangsstudienzeit 1991 - 2011, möchte ich zur Klärung der Belcanto-Sichtweise über diese Jahrzehnte erworbene, seriöse Fach-Kompetenz der klassischen Gesangskunst beitragen und kann in der Einschätzungsfrage mit viel Erfahrung und Kenntnis aufwarten.

Es sind viele Anteile, aus denen sich das Resultat eines Belcanto-Sängers zusammensetzt – hier seien Beispiele exemplarisch genannt:

  • sein klangliches Erscheinungsbild, das aus Stimmfarbe, Stimmsitz, Sensibiltät, Tonführung, Sängertyp, Naturell und Erarbeitung entsteht,
  • die sängerischen Eigenschaften inclusive der Musikalität, die sich stilimmanent zusammensetzen aus bereits vorhanden, dazu erlernten, ausdauernd trainierten und stilbezogen als „Handwerkszeug“ sicher eingesetzter Modi,
  • seine umsetzende Belcanto-Gesangs-Technik für das Repertoire eines bestimmten Zeitabschnitts der italienischen Opern-Geschichte mit einem bestimmten Anforderungsprofil der Ausführung,
  • das Gesangsergebnis, das den Zuhörer gesanglich, musikalisch und tonlich „berühren“ kann und auch
  • die sängerische Expressivität des Ausdrucks, die nach italienischem Maßstab sich immer mit einer hohen, emotionalen Komponente und leidenschaftlichem Engagement mit den Bögen der Komposition verbindet.